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Wie ein erdgeschichtlicher Zusammenstoß zu politisch motivierten Sahnehäubchen und weiteren Kuriositäten führte.
Ein Besuch in Bozen/Italien.
(Artikel für das italienische Kulturmagazin Onde, 24/2005)

Wer aus dem Norden in die Stadt Bozen, Hauptstadt der Provinz Bozen-Südtirol kommt, findet so manches wunderlich: caffè macchiato mit Sahnehäubchen, faschistische Denkmäler und die Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung.

An exponierter Stelle steht das mächtige Siegesdenkmal, verziert mit den Rutenbündeln (fasces), den Äxten und der Inschrift „Von hier aus brachten wir den Anderen Sprache, Gesetze und Kultur“ und während der irritierte Besucher sich fragt, warum das faschistische Monument nicht schon vor Jahrzehnten gesprengt wurde, wird im Fernsehen darüber diskutiert, ob eine Erklärungstafel angebracht werden soll oder nicht; gleichzeitig liest man in der Zeitung, dass ein Gerichtsverfahren für nichtig erklärt wurde, weil der Angeklagte in italienischer und nicht in deutscher Sprache geladen wurde. Auf dem Schulhof sieht man spielende Kinder – räumlich streng getrennt nach deutscher oder italienischer Ethnie: Wer aus dem Norden in die Stadt Bozen (Bolzano), Hauptstadt der Provinz Bozen-Südtirol (Bolzano - Alto Adige) kommt, findet so manches wunderlich, selbst wenn man aus einer Gegend kommt, die gleichfalls schon so manchen Nationalitätenwechsel vollzogen hat.

Doch wie konnte es dazu kommen?

Siegesdenkmal, Bozen

Die leidige Kontinentalverschiebung ...

Die ganze Geschichte fing vor ca. 100 Millionen Jahren an, als die afrikanische Kontinentalplatte (mitsamt der heutigen italienischen Halbinsel) auf die eurasische knallte und dabei die Alpen faltete.

Dies kümmerte ca. neunundneunzigmillionenneunhundertneunzigtausendneunhundert Jahre erst einmal niemanden. In dem Gebiet auf der Alpensüdseite siedelten zunächst die Räter, bald eroberten die Römer den Landstrich, zwischendurch schauten Langobarden und Ostgoten vorbei, und letztlich strömten germanische Baiern aus dem Norden in das Land, das im Mittelalter „Tirol“ getauft werden sollte. Es folgte das Übliche: Kriege, Besatzungen, Aufstände, Machtwechsel, bis irgendwann Tirol dem Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn zugeschlagen wurde. Die Bevölkerung bestand inzwischen größtenteils aus den deutschsprachigen Nachfahren der bajuwarischen Einwanderer und wenigen Siedlungen der Ladiner – die Erben der romanisierten Ureinwohner.

Ein Mann wird kreativ ...

Doch im 19. Jahrhundert keimte – wie im übrigen Europa – auch auf der italischen Halbinsel eine neue Idee: der Nationalismus. Folge war nicht nur der neue italienische Nationalstaat, sondern auch der Wille zur territorialen Expansion. Insbesondere ein Mann hatte sehr dezidierte Vorstellungen vom gewünschten Territorium des neuen italienischen Staates: Ettore Tolomei – gebürtiger Trentiner (und damit Österreicher) sowie seines Zeichens studierter Geograf und Herausgeber der Zeitschrift „La Nazione Italiana“ – fand es nur geologisch logisch, dass das Königreich Italien das komplette Gebiet jener Scholle umfassen sollte, die zu Urzeiten auf den europäischen Kontinent prallte, und in die nun die österreichischen Gebiete Südtirol und Trentino frech hineinragten.

In freudiger Erwartung der „zu erobernden Gebiete“ italienisiert Tolomei ab 1890 in mühevoller Kleinarbeit nicht weniger als 12.000 deutsche Orts- und Flurnamen, wobei er Namen wörtlich (und teilweise auch falsch) übersetzt, Laute angleicht, alte römische Siedlungsbezeichnungen reaktiviert oder einfach Namen frei erfindet. Für die Landesbezeichnung Südtirol kreiert Tolomei den Begriff „Alto Adige“ (Hoch-Etsch). Besonders peinliche Patzer unterlaufen ihm, als er neue Bezeichnungen auch für einige Ortschaften erfindet, für die es bereits italienische Bezeichnungen gibt.

... und anschließend aktiv.

Heutzutage würde man Tolomei einfach als fanatischen Spinner abtun, nur leider hatten in jener Zeit fanatische Spinner durchaus die Gelegenheit ihre Spinnereien in die Tat umzusetzen. Und diese Gelegenheit ergibt sich, als nach dem Ersten Weltkrieg Österreich-Ungarn in seine Einzelteile zerlegt wird. Tolomei nutzt seinen politischen Einfluss, um die Annexion Südtirols und Trentinos zu bewirken und wird als Leiter des Kommissariats für Sprache und Kultur des Alto Adige eingesetzt.

Hochwillkommen ist ihm die Machtergreifung der faschistischen Partei Benito Mussolinis im Jahre 1922, die ihm bei seinem Italienisierungsprojekt (das nach Tolomeis verquerer Logik ein Re-Italienisierungsprojekt ist) jegliche Unterstützung gewährt.

Der erste Schritt ist der Versuch der Assimilierung der Südtiroler, inklusive der Ladiner, deren Sprache einfach zum italienischen Dialekt umgedeutet wird: Die bereits vorbereitete Umbenennung der Ortsnamen, Verbot der deutschen Sprache an allen öffentlichen Institutionen (insbesondere Gerichte, Schulen und Kindergärten), Verbot der deutschen Presse, Verbot der Bezeichnung „Tirol“ oder „Südtirol“, Verbot von deutschen Grab-Inschriften. Die Südtiroler reagieren darauf, indem sie die italienischen Schulen boykotieren und ihre Kinder in Untergrundschulen mit eingeschmuggelten deutschen Schulbüchern selbst unterrichten.

Eine Großstadt wird aus dem Boden gestampft

Da die Assimilierung kaum Erfolg zeitigt, reagiert Tolomei mit einem zweiten Schritt, der Majorisierung: das Handelsstädtchen Bozen mit seinen 30.000 Einwohnern, soll innerhalb weniger Jahre in ein großstädtisches Industriezentrum mit 100.000 Einwohnern umgewandelt werden: Bauern werden enteignet, Sumpfgebiete trockengelegt, um ein Industriegebiet aus dem Boden zu stampfen. Wohnsiedlungen werden hochgezogen, die Zehntausende von Arbeitern aus dem Süden Italiens aufnehmen sollen.

Die Star-Architekten des Faschismus errichten ein neues Stadtzentrum, das mit seiner Monumental-Architektur und seinen Prachtstraßen einen krassen Gegensatz zum historischen, kleinstädtischen Bozen mit seinen mittelalterlichen Gässchen bildet. In abgeschwächter Form findet auch ein industrieller Ausbau von Meran (Merano) statt. Doch die ländlichen Gebiete bleiben weiterhin ausschließlich von Deutschen oder Ladinern bewohnt. Zeit also für den dritten Schritt – der Eliminierung: Südtirol könnte italienisch werden, wenn die Südtiroler einfach aus Südtirol verschwänden. Klingt einleuchtend, oder?

Der große Bevölkerungsaustausch

Die Gelegenheit dazu ergibt sich als 1939 der Unterzeichnung des Hitler-Mussolini-Paktes das Südtirol-Problem im Wege steht. Die „Lösung“ des Problems ist der schiere Wahnsinn: Das deutsche Reich und Italien einigen sich darauf, dass die 250.000 deutschen Bewohner Südtirols in die neuen deutschen Ostgebiete in Polen umgesiedelt und durch Italiener aus dem Süden ersetzt werden sollen. Mit massiver Propaganda (auch von deutscher Seite aus) und mit der Androhung der totalen Assimilierung (Tolomei hatte vorsorglich schon mal alle deutschen Familiennamen italienisiert) wird die Bevölkerung zur Auswanderung gedrängt. Gezielt wird das Gerücht gestreut, die „Dableiber“ würden nach Sizilien umgesiedelt.

Neben der Mehrheit, die sich der Propaganda fügt oder gar begeistert neues Land im Osten für das deutsche Volk in Besitz nehmen will, formiert sich auch eine Widerstandsbewegung, die nicht nur das faschistische Regime und die Nationalsozialisten sondern auch ihre eigenen Pro-Auswanderung-Landsleute zum Feind hat. Mehr als 70.000 Menschen verlassen Südtirol. Die Auswanderung wird zunächst durch den 2. Weltkrieg gebremst und dann durch den Sturz Mussolinis 1943 endgültig gestoppt. Die deutsche Wehrmacht marschiert in Norditalien ein, freudig begrüßt von den Südtirolern (was diesen heute natürlich ein wenig peinlich ist).

Explosiver Protest

Nach dem 2. Weltkrieg wird den deutschsprachigen Bewohnern volle Gleichberechtigung zuerkannt und der Region Trentino-Bozen ein Autonomie-Status zugebilligt; die meisten Auswanderer kehren in ihre Heimat zurück, die „Dableiber“ dürfen wieder ihre deutschen Familiennamen annehmen. Doch die Gleichberechtigung findet nur auf dem Papier statt: Was nutzt das Recht Deutsch zu sprechen, wenn bei Ämtern und Behörden niemand Deutsch versteht? Währenddessen werden in Bozen, wie zu besten Tolomei-Zeiten, weiterhin Italiener aus dem Süden angesiedelt.

Am meisten jedoch verstimmt die Südtiroler, dass sie in der gemeinsamen Region mit den italienisch-sprachigen Trentinern eine stetig schrumpfende Minderheit darstellen. 1957 kommt es zur ersten friedlichen Massendemonstration mit 35.000 Teilnehmern, die die Abspaltung Südtirols von der Region Trentino (man beachte: nicht von Italien!) fordert.

Die „Südtiroler Volkspartei“ (SVP) etabliert sich als Vertreter der deutschsprachigen Minderheit. Es folgt eine Serie von Bombenanschlägen, die sich zunächst gegen Strommasten richten. Die Zielauswahl der Anschläge wurde allerdings keineswegs von Ökofundamentalisten bestimmt: Die Hochspannungsleitungen versorgen die norditalienischen Industriegebiete mit Strom aus den gigantischen Wasserkraftwerken Südtirols und sind so Symbol italienischer Ausbeutung. Bald wird der Terror blutiger und richtet sich gegen die italienische Staatspolizei (Carabinieri), die wiederum mit aller Härte gegen die Terroristen (oder „Freiheitskämpfer“ – je nach Sichtweise) vorgeht. Die Tatsache, dass einerseits die Bombenleger von österreichischen Sympathisanten unterstützt werden und andererseits italienische Gerichte Carabinieri von offenbar berechtigten Foltervorwürfen freisprechen, lässt die italienisch-österreichischen Beziehungen auf den Gefrierpunkt sinken.

Ob es der friedliche Protest oder der blutige Terror war, der jetzt Bewegung in die Sache bringt, darüber wird noch heute gerne diskutiert. Jedenfalls kommt die Südtirolfrage 1960 vor die UNO, die in einer Resolution die Umsetzung der Autonomie fordert. Wiederum 12 terrorbegleitete Jahre dauert es nun bis sich die Südtiroler Bevölkerung an einem Autonomiestatut für die Provinz Bozen erfreuen kann (kurioser Seiteneffekt der Geschichte: die Schwesterprovinz Trentino wird mit dem gleichen Autonomiestatus beglückt, obwohl deren fast ausschließlich italienisch sprechenden Bewohner mit ihrer Zugehörigkeit zu Italien größtenteils recht zufrieden sind).

Folgenreiche Prozente

Zwar entzündete sich an der schleppenden Umsetzung des Statuts bis in die achtziger Jahre noch mancher Streit und manche Bombe, doch sind die Südtiroler nun allenthalben zufrieden und preisen ihr Autonomiemodell gerne als Lösung jeglicher Minderheitenprobleme dieser Erde an. „Proporz“ heißt das glückbringende Zauberwort: Alle öffentlichen Stellen werden nämlich proportional zu den Bevölkerungsanteilen besetzt, also derzeit ca 70% Deutsche und 30% Prozent Italiener (in der Stadt Bozen ist das Verhältnis umgekehrt) und das gilt selbstverständlich auch für die Provinzregierung. Somit hat die Südtiroler Volkspartei (SVP) als Vertretung der deutschsprachigen Südtiroler automatisch ein Abonnement auf die Macht, wobei sie aber gleichzeitig zur Koalition mit den Vertretern der italienischen Bevölkerung gezwungen ist, die automatisch 30% der Ministerämter besetzen. Und die meisten Italiener wählen – anscheinend als Trotzreaktion – stets die postfaschistische Alleanza Nazionale. Außerhalb der Städte, in den ausschließlich deutschsprachigen Dörfern, tritt folglich als einzige Partei die SVP an. Zum Ausgleich dieses Demokratiedefizits schickt sie dann gleich mehrere Bürgermeisterkandidaten ins Rennen und zerfetzt sich gerne untereinander in diversen Flügeln und Untergruppierungen.

"Sage mir wer du bist, und ich sage dir welchen Job du kriegst!"

Damit man weiß, wer denn überhaupt „Deutscher“ oder „Italiener“ ist (vor allem die jüngeren Südtiroler palavern perfekt zweisprachig), liefert jeder Einwohner eine Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung (wundervolles Wort!) ab, in der er sich zu einer der drei Sprachgruppen (Deutsch, Italienisch, Ladinisch) bekennen muss. Logisch, dass sich da die Erklärung zur deutschen Sprachgruppe größter Beliebtheit erfreut, da sie die besten Karrierechancen eröffnet. Und logisch, dass das Ganze natürlich erst mal gegen EU-Recht verstößt. Dieses Problem wurde jedoch recht elegant gelöst, indem der EU-Ausländer, der sich um eine entsprechende Stelle bewirbt, sich einfach ebenfalls einer der drei Sprachgruppen zugehörig erklärt.

Und heute?

Widerstand durch Sahnehäubchen?

Während man in Bozen anscheinend das Prinzip „Best of both worlds“ verinnerlicht hat und den kulinarischen Highlights beiderlei Kulturen keine Scheu entgegenbringt, serviert einem der Wirt im nördlichen Vinschgau den cafè macchiato mit Sahnehäubchen. Ein Akt politischen Widerstandes? Oder bloß kreative Gastronomie?

Derweil lassen progressiv-experimentierfreudige Schulleiter italienische und deutsche Kinder testweise zusammen unterrichten. Kaum jemand nimmt noch Anstoß an den nach wie vor gültigen Tolomeischen Namenserfindungen. Seit diesem Jahr müssen nicht mehr alle Gerichtsakten übersetzt werden. In manchen Städten treten von der SVP unabhängige und dennoch deutschsprachige Bürgermeisterkandidaten an, während in Bozen "interethnische" Parteien wie die Grünen-Verdi an Bedeutung gewinnen.

Und das staatliche Denkmalamt in Rom verweigert die Anbringung von Erklärungstafeln am „Siegesdenkmal“. Sie stehen nun 20 Meter entfernt davon.
Seltsame Stadt. Interessantes Land.

Zippo Zimmermann, Saarbrücken (Text und Fotos), 11.9.2005

Nachtrag: »Die Saar ist frei ...« – Südtirol und das Saarland

„Die Saar ist frei, jetzt sind wir an der Reih’!“ rufen die Südtiroler in ihrer naiven Weltsicht als 1935 das Saarland dem Deutschen Reich angegliedert wird und Hitler einen grandiosen Propaganda-Erfolg beschert. Ihnen ist die parallel laufende Geschichte des Saarlandes bewusst – heute weiß kaum noch jemand davon: Auch das Saarland wurde nach dem 1. Weltkrieg vom Mutterland abgetrennt, es gab zwangsweise französische Schulen und Beamte, die mit mangelnden Deutschkenntnissen für Unmut sorgten. Und es gab Ortsumbenennungen: allerdings vorwiegend  nach 1935 von deutscher Seite aus (so wurde aus „Saarlouis“ das frei erfundene „Saarlautern“, aus „Beaumarais“ ein behelfsmäßig übersetztes „Schönbruch“ und aus dem bereits mehrfach umbenannten „Bourg-Dauphin“ wieder „Neuforweiler“).

Auch den Saarländern wird nach dem 2. Weltkrieg ein Autonomiestatut zugesprochen (das übrigens deutlich weitergehendere Autonomie-Rechte vorsah als das Südtiroler Statut) und gleichfalls billigen alle beteiligten Parteien (die Parlamente von Frankreich, Deutschland und dem Saarland) das Statut. Doch hier endet die Parallele: Anders als den Südtirolern wird den Saarländern nämlich das Statut zur Volksabstimmung vorgelegt. Was von den französischen und deutschen Politikern als reine Formsache betrachtet wird, sehen die Saarländer als Schicksalswahl: Nach einem kurzen, heftigen und äußerst emotional geführten Wahlkampf lehnt die Saarbevölkerung am 25. Oktober 1955 das Statut mit deutlicher Mehrheit ab. Frankreich schätzt die Wahl richtigerweise als Votum für Deutschland ein und bietet der Bundesrepublick Deutschland Verhandlungen für den Wiederanschluss des Saarlandes an. 1957 wird das Saarland 11. Bundesland der Bundesrepublik Deutschland.

» mehr über die Geschichte des Saarlandes

Zippo Zimmermann, Saarbrücken (Text und Fotos), 2.12.2005


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